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Zeitungsartikel Ist Kreuzberg noch das Mekka der Musen (1974) Ist Kreuzberg noch das Mekka der Musen? BZ, 1974 Berlin-Kreuzberg. Das klingt nach Kunst nach nach Künstlern, nach Bohème. Kreuzberg, das hat einen Klang, einen Namen wie früher, viel früher einmal Schwabing in München zum Beispiel. In den Kneipen zwischen Yorckstraße und Spreewaldplatz, zwischen Kanal und Kottbusser Tor, da fanden Touristen eine Art eigene Weltanschauung. Fanden? Die Künstler, die Maler und die Barden haben sich rar gemacht. Viele von ihnen sind arriviert, sind in vornehmere Berliner Gegenden gezogen. Was natürlich nicht heißt, daß Kreuzberg heute ohne Flair und Atmosphäre ist. Wir haben drei Altkreuzberger besucht, die einen guten, ja einen großen Namen haben und die gar nicht daran denken, dem Kletz den Rücken zu kehren. Mischung aus Kneipe und Galerie In der Kleinen Weltlaterne, dieser eigenartigen Mischung aus Kneipe, Galerie, Wartesaal und Quatschbude, kann man sie bisweilen treffen. Hier, unter den Fittichen von Hertha, der Künstlermutter und Verwalterin des Fiedlerschen Kneipen-Großkonzerns, findet man die Maler, Dichter, Graphiker und auch ihr Publikum, die Sachverständigen, die Interessierten und Konsumenten. Arthur Märchen beispielsweise gehört schon fast zum Inventar. Er, der Kauz, Maler, Musiker, Kabarettist und Dichter, wohnt ja auch nur einige Schritte entfernt. Die Wohnungstür im Hause Naunynstraße 57, an der schlicht und ergreifend Märchen steht, ist gewiß das Schönste, was dieser Bau je vorzuweisen hatte. Wer Arthur besuchen will, sucht vergeblich nach einer herkömmlichen Klingel. Ein Schlitz in der Tür ermuntert zum Einwerfen eines Groschens, nach einem leisen Klicken ertönt ein Schnarren, dann erst öffnet Märchen. Er empfängt gern Besuch, führt ihn in die gute Stube, die sich wie ein Sammelsurium von Raritäten ausnimmt. Eulenspiegeleien und Cownerien Über Geld spricht er nicht gern, und deshalb vermeidet er auch strikt politisches Auf treten. Er vergnügt sich lieber mit Eulenspiegeleien und seinen Clownerien. Demnächst will Märchen eine Kneipenbühne aufmachen, teilt er mit und kippt sich dabei eine Prise Schnupftabak auf den Handrücken. Warum er gerade in Kreuzberg wohnt? Geh mal nach Neukölln oder Schöneberg in eine Kneipe antwortet er, da merkste den Unterschied. Kreuzberg ist das St. Pauli von Berlin. Arthur Märchen muß es wissen - er wohnt seit 1960 dort. Kurt Mühlenhaupt freilich ist noch länger da. Eine präzise Zahl von Jahren läßt sich nicht angeben. Jeder in Kreuzberg kennt ihn, nicht unbedingt als Künstler, aber schließlich war Kurt jahrzehntelang Ausrufer, Trödler und Tausche-Brennholz-gegen-Kartoffelschalen-Händler. Erst seit fünf Jahren verdiene ick so viel, daß ick von der Malerei leben kann, erklärt er. Sicherlich, auch er schreibt gelegentlich, aber Ick bin wohl doch mehr Maler, sagt er, das mit der Schriftstellerei nehme Ick nich so für voll. Allet, wat sich so ergibt, wat mir Spaß macht, det nehm' Ick mir vor. Aber es muß auch anderen jefallen. Wenn Ick mit den Bildern Liebe, Friedfertigkeit und Poesie gebe, will Ick erreichen, daß sich die Leute lieben. Mal' Ick Revolutionsbilder, wichsen `se sich die Köppe ein. Und det will Ick nich. Auch eine Blume kann sozialkritisch sein! Ick lebe hier hautnah mit den Arbeitern zusammen. Da sieht man, was da für Kämpfe nach sind. Bei den Menschen, die im Keller wohnen. Aber lck wohne nich hier, weil ick mich als Original fühle, wie das oft behauptet wird. So richtig frei sein, das kann Ick gar nich mehr, weil Ick beobachtet werde. - Kaum mehr beachtet und beobachtet wird Friedrich Schröder-Sonnenstern, der heute in einer kleinen Abriß-Wohnung in der Kohlfurter Straße wohnt. Hertha Fiedler betreut ihn, der seit seinem 18. Lebensjahr entmündigt ist, und den man in Ausland besser kennt als bei uns. Schröder-Sonnenstern, der nun bald 80 Jahre alt ist, hat selbst zu seiner großen Zeit - von 1948 an - am wenigsten gemalt. Er gab Immer die Ideen, die seine Schüler dann ausbauten. Friedrich überarbeitete die Werke zum Schluß und setzte seinen Namen darunter. So ist es verständlich, daß alte, kleine Skizzen und farbige Zeichnungen von ihm heute mit 10000 Dollar und mehr gehandelt werden. Dennoch, Schröder-Sonnenstern lebt von 200 Mark Rente und dem, was Fiedlers für ihn verkaufen. Als Siebdrucke. Aber auch das interessiert den alten Mann nicht mehr so recht. Ich habe ewig gesoffen, alles versoffen, bekennt er in einem Moment der Nüchternheit. Heute malt Schröder-Sonnenstern gar nicht mehr. Ab und zu schreibt er was auf und nun ist ein Buch von ihm erschienen. Ein anerkannter Verrückter So lebt - falls man es noch so nennen kann - Friedrich Schröder-Sonnenstern in Kreuzberg vor sich hin, ist bisweilen einige Tage auf Achse, feiert dann und wann irgendeinen Geburtstag, freut sich kindisch über ein Weihnachtspaket und ist ansonsten von der Welt verlassen. Nur ab und zu setzt er sich in seinem Bett auf, um zu erkennen: Ich bin der einzige Verrückte in Europa - amtlich anerkannt! von Adam Fröhlich
Links:
Zeitungsartikel: Die freundlichen Leute vom Kiez (1973)
Zeitungsartikel: Kreuzberger Handdruckerei (1975)
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