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Zeitungsartikel Die freundlichen Leute vom Kiez (1973) Über Artur Märchen Berliner Morgenpost, 19.10.1973 Andere Künstler haben den Kiez längst verlassen, ihn der drohenden Verödung preisgegeben. Artur Märchen, obwohl sein Name für den Ku'damm wahrlich gut genug wäre, bleibt lieber in der Naunynstraße. Mit zwei Freunden mietete er einen Trümmerhaufen von Ladenwohnung, fing an zu bauen und eröffnete dort vor wenigen Tagen das Atelier 57, eine schmucke kleine Galerie. Wenn man ein Licht hat, soll man es an den Platz stellen, wo es am düstersten ist. Und der Ku'damm hat genug Licht. Die Kumpels aus dem Kiez machten mit. Zwei bildeten zusammen mit Märchen den harten Kern und schufteten, daß es nur so krachte: Gunnar Hefftler, Schlosser, Universalhandwerker, Arbeitstier (Märchen: Der hat reingehauen wie ein Verrückter, daß mir schon fast schwindlig wurde) und begabter Maler, war der eine, Dieter Wiech, ebenfalls Universalhandwerker, Arbeitstier und begabter Maler, außerdem Zithervirtuose, der andere. Natürlich waren sie zwischendurch regelmäßig pleite und wollten alles hinschmeißen. Einmal fiel Märchen, auch nüchtern keineswegs schwindelfrei, von der klapprigen Leiter mitten in die Schaufensterscheibe. Ihm passierte zwar nichts, aber die teure Scheibe war hin und an Geld für eine neue nicht zu denken. Da ließ Gunnar das Werkzeug aus den Händen fallen und brüllte: Jetzt reicht mir's aber. Es war Märchen, der nach einer halben Stunde trübsinnigen Grübelns sagte: Wegen so einer blöden Scheibe geben wir doch nicht auf. Nun ist die Galerie in der Naunynstraße fertig. Artur, Gunnar und Dieter sind zwar immer noch pleite, aber glücklich, daß sie ihren eigenen Kunstladen haben: In einer kommerziellen Galerie ziehen sie dem Maler 45 Prozent vom Verkaufspreis seines Bildes ab - da kann ich auch selbst verhungern und brauche keinen Galeristen. Die Leute vom Kiez, die Rentner und die Türken, freuen sich mit den drei Künstlern über das neue kleine Schmuckstück in der Naunynstraße. Märchen: Ich höre hier jeden Tag freundliche Worte. Die Leute kommen einfach rein und gratulieren und sagen, das habt ihr aber schön gemacht. Die freundlichen Leute vom Kiez In Kreuzberg ist sogar die Polizei freundlich, erzählt Märchen. Einmal kam ich aus der Kleinen Weltlaterne und mußte so nötig pinkeln. Das war zwar doof von mir, denn eigentlich hätte ich es auch in der Kneipe erledigen können, aber ich habe erst draußen dran gedacht. Da ist das Polizeirevier am Kottbusser Tor, die sagen zu mir immer: Na, Meister Pinselus. Vor dem Revier stand der grüne VW-Bus, und weil ich so nötig mußte, habe ich dagegen gepinkelt ich habe gar nicht bemerkt, daß die Polizisten auf dem Balkon standen und mir zugesehen haben, bis sie riefen: Artur, was machst du da mit unserem neuen Wagen? - Ich wasche ihn! Da mußten sie lachen. Wer Märchen kennt, weiß, daß diese Geschichte kein Märchen ist. Obwohl Märchen gar nicht sein richtiger Name ist. Denn richtig heißt er Artur Gratobowczynskilj. Kein Wunder, daß man ihm einen Spitznamen gab. Den Namen Märchen verpaßte ihm die dicke Rosi vom Leierkasten - damals als Märchen die Seefahrt aufgab und nach Berlin kam, so vor 17 Jahren etwa. Vorher war er Matrose, Bombenfischer, Schiffskoch, und manchmal stand er auch mit der Knautschkommode vor einer Reeperbahn-Kaschemme und versuchte, Touristen in die trübe Düsternis der Pinte zu locken. Diese Berufserfahrung ermöglichte es ihm, im Leierkasten, der damals noch Kurt Mühlenhaupt gehörte, mit einer Mandoline als Bänkelsänger aufzutreten. Und weil er in seinen Liedern so schöne Geschichten erzählte, nannte ihn die dicke Rosi eben Märchen. Das gefiel dem Artur, und so kommt es, daß an seiner Wohnungstür in der Naunynstraße nicht Gratobowczynskilj steht, sondern Märchen. Neben dem Namensschild, da wo eigentlich der Klingelknopf sein müßte, ist ein Schlitz in der Tür: Artur Märchens selbstkonstruierte Münzklingel. Sie läutet nur, wenn man einen Groschen einwirft. von Axel Schwarz
Links:
Zeitungsartikel: Skandal in Bonn (1973)
Zeitungsartikel: Ist Kreuzberg noch das Mekka der Musen (1974)
Startseite: Artur Märchen